Bücher & Texte stapeln sich am Schreibtisch. Schneller lesen müsste man können. FORMAT testete einen Schnelllesekurs.

Lesen ist wie Autofahren. Wird man auf der Autobahn müde, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man macht eine Pause, oder man konzentriert sich und steigt aufs Gas. Die Vergleiche, die Workshop-Leiter Göran Askeljung verwendet, um die BrainRead-Methode zu erklären, sind eingängig, aber auch gewagt. Meine Skepsis mindern derartige Metaphern leider nicht unbedingt. Vielleicht, weil ich hinterm Lenkrad zu übertriebener Vorsicht neige, die sonst eher nicht meine Entscheidungsprozesse beeinträchtigt. Da ich trotzdem gerne einmal auf die Tube drücke, sitze ich jetzt in diesem Seminarraum und will mir zeigen lassen, wie man schneller liest. Ich möchte künftig durch Textwüsten sprinten und zum Usain Bolt des Lesens werden. Entschleunigung war nämlich gestern.

Giving Gas

Ob die versprochene Verdoppelung der Lesegeschwindigkeit tatsächlich eintritt? Ich weiß es nicht, und ebenso wenig ist mir mein momentaner Ist-Zustand in Sachen Lesetempo bekannt. Aus dem Bauch heraus würde ich sagen, dass der irgendwo zwischen drei Jahre (Canetti, Die Blendung) und 0,4 Sekunden liegen müsste. Aus dem Bauch her­aus würde ich aber auch sagen, dass es hier anderer Maßeinheiten bedarf. Tut es auch, wie Kursleiter Göran mit skandinavischem Akzent erklärt. Wir ermitteln die Effektive Leserate. Die erhält man, wenn man das Textverständnis in Prozent mit den gelesenen Wörtern pro Minute multipliziert.  Göran redet übrigens sehr schnell. Irgendwie könnte er eine Figur aus dem Kosmos von Komiker Hape Kerkeling sein. Das schafft im Kurskontext aber auf ­abwegige Art auch Vertrauen. Wenn jemand so rasant parliert, wie schnell muss er dann erst lesen können? Eben.

Fehlervermeidung

Wirklich interessant werden am Anfang also wohl nur die Wörter pro Minute sein. 240 Wörter schafft übrigens ein durchschnittlicher Leser in der Minute, erzählt Göran. Er erklärt dann auch gleich, was so die Zeitfresser beim Lesen sind: Zurückspringen im Text. Unkonzentriertheit. Gedanken abschweifen lassen. Die innere Stimme, die mitliest. Letzteres heißt übrigens Subvokalisation. Das alles muss weg. Und dafür gibt es nicht nur Übungen, die Schnelligkeit und intuitives Textverständnis fördern sollen, sondern auch ein Hilfs-Gimmick: den Lesebeschleuniger.

Wissenschaftlich geprüft

Die speziell für BrainRead Entwickelte iPad App, ist ähnlich wie ein eBook, mit ein Balkenlineal fährt dann von oben nach unten über den Text drüber und zwingt einen so, zielgerichtet Zeile für Zeile zu lesen, respektive seinen Blick zu schulen. Im App kann auch die Geschwindigkeit des herunterfallenden Balkens reguliert werden. Eine echte Zeilenguillotine ist das. Das Prinzip ist einfach und bewährt sich seit mehr als 10 Jahre. So lange gibt es nämlich die BrainRead-Methode, die damals in Schweden entwickelt wurde und seitdem regelmäßig wissenschaftlich überprüft wird.

Vorwärts im Text

Trotzdem: Funktioniert das sogenannte Chunking, das Abtasten und Erfassen von Wörtern und Sinngruppen, tatsächlich? Die nächsten Tests sagen: ja. Ich bin deutlich schneller, wenn es darum geht, bestimmte Buchstaben- und Zahlengruppen aus Zeilenkolonnen zu filtern oder Synonymbegriffe richtig anzukreuzen. Allerdings habe ich plötzlich auch drei, vier, fünf Fehler. Das ist völlig normal, seien Sie ruhig ungenau, tröstet Göran Askeljung. Folgen Sie Ihrem Gefühl, die Sicherheit kommt von selbst. Schnell schauen, schnell entscheiden, das bringt den Leseprozess voran. Also auch beim Lesen braucht es wieder ein gewisses Bauchgefühl. Und der nächste Lesetest zeigt es: mehr Wörter in der Minute gelesen, die Merkfähigkeit ist gleichgeblieben.

Zeichen und Wunder

Ein Wunder? Wenn ja, dann eines, das nicht nur mir widerfährt. Mein Sitznachbar, auf seinem Namensschild steht Dr. Robin Lumsden, Rechtsanwaltskanzlei Lumsden & Partners, hat beim Lesen auch schon einen ziemlichen Zahn drauf. Heimlich luge ich immer ein wenig rüber. Ein Verhalten, das noch von der Schulzeit herrührt und das ich in klassenraumähnlichen Zimmern nicht abzulegen vermag. Ihn rufe ich auch an, um zu erfahren, wie es ihm nach dem Schnelllesekurs mit den Textwülsten so geht: „Gesetzestexte lese ich nach wie vor gewissenhaft, genau und dementsprechend langsam. Aber mit Tageszeitungen, Briefe, Berichte und Emails bin ich eindeutig schneller fertig“, so der Anwalt.

Schlussfolgerung

Die gute Nachricht: Die BrainRead-Methode funktioniert. Und der zweitägige Kurs ist ein guter Grundstock, sich schnell und zügig durch Textberge zu arbeiten. Durch das sogenannte Chunking und schnelles Scannen nach Sinngruppen bleibt das Gehirn gefordert. Man schweift nicht ab. Zudem steigert man auch noch das Textverständnis.

Wichtige, kompliziert verfasste, syntaktisch anspruchsvolle Schriftstücke sollten aber trotzdem genau und langsam gelesen werden, oder 2-3 Mal hintereinander: Erst Scannen, dann Überfliegen, dann lesen mit Chunking. Das dauert nicht länger als einmal langsam lesen wie vorher, bringt aber ein viel höheres Verständnis und Gedächtnisbild von dem Stoff, weil es drei Mal wiederholt worden ist.

Ein großes Plus bei BrainRead: die genaue Protokollierung des Erfolgs und die intensive Nachbetreuung.

Manfred Gram

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